Marieluise Fleißer
1901 - 1938
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Marieluise
Fleißer: |
Marieluise Fleißer: |
Marieluise
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Marieluise Fleißer: Die List.
Frühe Erzählungen. |
Carl-Ludwig
Reichert: |
Neue Zürcher Zeitung
Aus lebendiger Nähe
Zum hundertsten Geburtstag von Marieluise Fleisser
Marieluise Fleissers Karriere begann mit einem
Paukenschlag und endete im Hafen der Ehe. Der Paukenschläger war
Bertolt
Brecht und der Ehemann Bepp Haindl, ein Tabakwarenhändler aus der
Provinz, bei dem die junge Schriftstellerin Schutz
suchte vor
nationalsozialistischen Anfeindungen und sich wiederfand in einem Gefängnis. Ein
typisches Frauenschicksal oder
nur die halbe Wahrheit? Beides. Denn
Marieluise Fleisser war weit mehr als das Opfer patriarchaler Strukturen und
widriger
Umstände, und sie wusste das sehr wohl.
Die heute vor hundert Jahren in Ingolstadt geborene
und ebendort 1974 verstorbene Theater- und Prosaautorin zählt zu
den
eigenwilligsten und interessantesten Literatinnen, die die Weimarer
Republik hervorgebracht hat. Bekannt wurde sie 1926 mit
dem Drama «Fegefeuer
in Ingolstadt», das Moritz Seeler auf Brechts Drängen hin an seiner legendären
«Jungen Bühne» in
Berlin zur Aufführung brachte. Berüchtigt wurde sie drei
Jahre später, als derselbe Brecht als pfeffernder Regisseur im
Hintergrund
ihr zweites Stück, «Pioniere in Ingolstadt», im Theater am Schiffbauerdamm zum
Skandal machte. Die linke
Presse schwärmte und sprach von einem Erfolg, die
rechte geiferte und schimpfte die Verfasserin «eine schlimmere
Josephine
Baker der weissen Rasse – in dem dicksten sexuellen Ur- und
Affenwald».
Thema der «Pioniere» war, was Marieluise Fleisser
als ihr Thema schlechthin bezeichnete: «etwas zwischen Männern und
Frauen».
So banal und vage diese Umschreibung klingt, so vielfältig und überraschend sind
die Formen, mit denen die Autorin
diesem Etwas Ausdruck verliehen hat. Davon
zeugt nicht nur ihr Bühnen-, sondern auch und vor allem ihr erzählerisches
Werk.
Wie die meisten Schriftsteller im Deutschland der
Zwischenkriegszeit hat sich «die Fleisserin» – so nannte sie Brecht –
ihren
Platz im Literaturbetrieb mit Veröffentlichungen in den Feuilletons von
Zeitungen und Zeitschriften erschrieben. Ihre erste
Erzählung erschien 1923
unter dem Titel «Meine Zwillingsschwester Olga» in Stefan Grossmanns
renommierter Wochenschrift
«Das Tagebuch». Diese Geschichte über Ängste und
Zwänge einer Gruppe Dreizehnjähriger verrät noch das vorsichtige Tasten
der
Anfängerin, die sich bemüht, «neue Sachlichkeit» zu produzieren, wie ihr Mentor
Lion Feuchtwanger es von ihr verlangt
hatte. Doch ist der Fleisser-Ton schon
da. Naiv, manchmal fast ungelenk mutet diese Sprache an und wirkt dabei
gänzlich
ungekünstelt. Die Sätze sind kurz und gründen auf äusserst präziser
Beobachtung, keine wabernden Metaphern verstellen den
Blick auf das
Wesentliche.
Ein Mädchen lebte allzu ernsthaft in sich hinein,
und jeden Tag tat es sich was anderes an, ganz was Schlechtes, und wenn
nur
was Schweres an sie herantrat, gleich nahm sie sich darum an und hielt
das Schwere aufmerksam in der Hand, wie wenn sie gar
nicht mehr davon lassen
könnte. Man fragte sie, warum sie das tat. Seht ihr nicht, dass mir da was nicht
hinausgegangen ist,
sagte sie.
So beginnt die Titelgeschichte von Marieluise
Fleissers erstem Erzählungsband, den der Gustav-Kiepenheuer-Verlag
1929
herausbrachte. Man merkt: Hier hat jemand genau hingeschaut und noch
genauer hingehört. Walter Benjamin lobte in seiner
Rezension des Bandes die
Fähigkeit der Autorin, eine «unliterarische, aber keineswegs naturalistische
Sprache (. . .) in
Anlehnung an den ebenfalls gar nicht naturalistischen
Volksmund zu schaffen».
Die Geschichten der Marieluise Fleisser, wie auch
ihr einziger Roman, «Eine Zierde für den Verein» (1931),
spielen
hauptsächlich im Kleinbürgermilieu. Sie handeln von den seelischen
Krämpfen Ausgestossener und von der Schwierigkeit, in
einer Welt von
vorgefertigten und scheinbar unumstösslichen Wert- und Moralvorstellungen die
persönliche Freiheit zu
behaupten.
Häufig stehen Frauen im Zentrum der Erzählungen.
Meistens geraten diese Frauen an den falschen Mann. Und weil die
Fleisser
selber an manche falschen Männer geraten ist, weil sie selber –
nicht zuletzt durch Förderer wie Brecht – ausgenützt und
unterdrückt worden
ist, drängt sich eine biographische Lesart ihres Werkes auf. Da hat man das
unerfahrene Mädchen vom
Lande, das in den intellektuellen Kreisen Münchens
und Berlins geistige und andere Freizügigkeiten kennen lernt. Da ist die
von
Politik, Intrigen und finanzieller Not Zermürbte, die sich heimholen
lässt nach Ingolstadt, um einem ganz und gar
unintellektuellen Mann den
Haushalt zu führen, und vor lauter Arbeit in Küche und Geschäft über Jahre
hinweg kaum mehr
zum Schreiben kommt. Das alles passt wunderbar zum Bild von
der Fleisser als Märtyrerin und greift doch viel zu kurz. Auf die
Frage, ob
ihre Erzählungen autobiographisch seien, hat die Autorin selber einmal
geantwortet:
Nicht eigentlich. Aber man schreibt doch immer aus
dem heraus, was man selbst erfahren oder aus lebendiger Nähe beobachtet
hat,
man muss es irgendeinmal gekriegt haben, von nichts kommt nichts, jedenfalls
nicht bei mir. Das kann sich sehr
verwandeln, bis es zu einer Geschichte
wird.
Und wie es sich verwandelt. Marieluise Fleisser
stilisiert, destilliert und ziseliert, bis die Literatur sich zu ihrem Leben so
verhält
wie eine gelungene Übersetzung zum Original: Sie ist eigenständig und
doch untrennbar mit dem anderen verbunden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Marieluise
Fleisser wieder Fuss zu fassen in einem ihr fremd
gewordenen
Literaturbetrieb. Es gelang ihr nur mit Mühe. Geschwächt von den
Entbehrungen des Krieges, kämpfte sie nach wie vor gegen
die physische und
psychische Überlastung, die Haushalt und Ehe für sie bedeuteten. «Karl Stuart»,
ein Stück, das sie noch
während des Krieges geschrieben hatte, fand nirgendwo
Anklang. Ein anderes, das Volksstück «Der starke Stamm», kam zwar
an den
Münchner Kammerspielen zur Uraufführung, wurde vom Publikum aber des bayrischen
Dialekts wegen nicht goutiert
und mit Hitlers Blut-und-Boden-Gesängen
assoziiert. Also wandte sie sich wieder dem Schreiben von Geschichten zu,
obwohl
sie, wie es in ihren biographischen Notizen heisst, «in einer
Literaturform, die finanziell nichts einbringt, ihre Stoffe
aufzehrt».
Dennoch stammen aus diesen Jahren einige ihrer besten Erzählungen.
Das parabelhafte Prosastück «Das Pferd und die
Jungfer» beispielsweise. Oder
«Avantgarde», wo sie sich, wieder in Form Fleisser'scher Autofiktion, an ihre
Zeit mit Bertolt
Brecht erinnert. Ausserdem «Eine ganz gewöhnliche Vorhölle»,
«Der Rauch» oder «Er hätte besser alles verschlafen»,
Geschichten, die auf
Erfahrungen während und nach dem Krieg zurückgehen.
Eine eigentliche Renaissance erlebte die Fleisser
Anfang der siebziger Jahre. Damals erklärten sich die «kritischen
Realisten»
Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz zu
ihren geistigen Söhnen. Sie machten sich an Adaptionen
von ihren Stücken,
Fassbinder widmete ihr seine «Katzelmacher». Die Fleisser zeigte sich erfreut,
blieb aber distanziert. Mit
derselben freundlichen Distanziertheit nahm sie
auch die Ehrungen entgegen, die ihr nun zuteil wurden. Und im Dezember
1972,
vierzehn Monate vor ihrem Tod, erschien die dreibändige Werkausgabe und gab der
Autorin die Gewissheit, dass ihr
lebenslanges Ringen um und mit Sprache zwar
für «Katzelmacher», aber bestimmt nicht für die Katz gewesen war.
Sacha Verna