Jemand mußte Otto G. verleumdet haben...

Kafka, Werfel, Otto Gross und eine „psychiatrische Geschichte“

Von Thomas Anz

Woher diese Maßlosigkeit der Empörung? Nicht die stärksten Worte scheut Kafka, um seine Betroffenheit angemessen auszudrücken. „Ekel“ und „Entsetzen“ bekundet er, nennt sich selbst „beleidigt“, „unglücklich“, „verzweifelt“ und das Drama seines sonst so bewunderten Freundes einen „dreiaktigen Schlamm“, die Hauptfiguren eine „Höllenerscheinung“. Das Stück „geht mir sehr nahe, trifft mich abscheulich im Abscheulichsten“, schreibt er im Dezember 1922 an Max Brod. Er selbst sei sich „über die Gründe des Widerwillens nicht ganz im klaren“; dennoch versucht er sie zu formulieren. Dunkel bleibt die Angelegenheit gleich-wohl. Geht man ihr nach, lassen sich einige Aufschlüsse gewinnen über Kafka und über das, was ihn zu einem Repräsentanten seiner, der expressionistischen Generation machte.
Um Franz Werfels „Schweiger“ geht es zunächst, ein bestenfalls zweitrangiges, wenn nicht gar einfältiges, heute allenfalls als Zeitdokument interessantes Drama, das freilich damals mit einigem Erfolg aufgeführt wird. Kafka liest das Stück, führt darüber mit Werfel, als dieser ihn in Prag besucht, ein quälendes Gespräch. Es belastet ihn „die ganze Nacht über“ – wohl auch, weil er einen ihm teuren Freund und ein geachtetes Vorbild zu verlieren fürchtet.
Bald darauf verfaßt er jenen kurzen und berühmten Prosatext, der uns unter dem Titel „Gibs auf!“ überliefert wurde, das literarische Dokument einer Orientierungskrise. Zahllose Inter-preten haben es zu deuten versucht, doch ihnen allen ist entgangen, daß Kafka hier ein Ge-dicht Werfels umgeschrieben hat. „Der rechte Weg“ heißt es. Über ihn vermag Werfel, das Idol der damals jüngsten Literatur, der „Führer der Generation“ (so Kafka), keine Auskunft mehr zu geben.
Und auch mit Briefen versucht sich Kafka über seine befremdliche Reaktion Klarheit zu ver-schaffen. Der erste bleibt ein Entwurf, der zweite ist vermutlich nie an Werfel abgeschickt worden. Die Sprache der Kritik war wohl zu offen und zu scharf. Das Stück, so lautet der ent-scheidende Passus, sei „ein Verrat an der Generation, eine Verschleierung, eine Anekdotisie-rung, also eine Entwürdigung ihrer Leiden“.
Wenn man nach 1920 in Prager Literatenkreisen von „der Generation“ sprach, meinte man die eigene, die etwa um 1910 mit Nachdruck in die literarische Öffentlichkeit trat und schon am Ende des Jahrzehnts als abgeschlossene, historische Angelegenheit betrachtet wurde. Werfels „Schweiger“ hatte die Ideen, Aktivitäten und auch die Leiden dieser Generation noch einmal in Szene gesetzt, dabei freilich entstellt zu dümmlichen Heilslehren, psychopathischen Phan-tastereien und psychiatrischen Einzelfällen.
Vor allem eine Figur mußte, so wie Werfel sie auftreten und reden ließ, auf Kafkas Wider-stand stoßen: der Privatdozent und Anarchist Dr. Ottokar Grund. Nicht nur mit dem Namen spielte der Autor auf einen Mann an, dem sich sowohl Kafka als auch er selbst zeitweise eng verbunden fühlten und der auf beide einigen Einfluß ausübte: den damals berühmt-berüchtigten Arzt, Psychoanalytiker und Anarchisten Otto Gross. Doch damit nicht genug: Diese in dem Stück höchst unsympathisch, ja widerlich gezeichnete Figur weist zumindest eine Eigenschaft auf, die weniger dem realen Vorbild entsprach, als daß sie für jemand ande-ren charakteristisch war: für Franz Kafka.
Otto Gross, das wird seit seiner Wiederentdeckung in den späten siebziger Jahren immer deutlicher, hat die expressionistische Generation wie wenige andere mit geprägt. Der „bedeu-tendste Schüler Sigmund Freuds“, so Erich Mühsam, vermittelte den Literaten- und Boheme-kreisen in München, Ascona, Berlin, Wien und Prag die Psychoanalyse in einer kulturrevolu-tionären Version. Freud selbst pries ihn, bevor es zum Bruch kam, als „hochintelligent“ und „hochbegabt“. An C. G. Jung schrieb er am 28.2.1908, er und Gross seien die einzigen, die zur Ausarbeitung der Psychoanalyse Eigenständiges beizutragen hätte.
Der so Gelobte hat dies indes auf eine Weise, die den Lehrer bald befremdete. Otto Gross war wohl der erste, der, Jahrzehnte vor Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse, die Psychoanalyse zum Instrument der Gesellschaftskritik machte und mit nachdrücklichem Blick auf die Leider-fahrungen des einzelnen den Zusammenhängen von sozialen und psychischen Konflikten nachging.
„Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben“, soll Freud dem Kulturanalytiker einmal entge-gengehalten habe. Gerade weil Gross (wie später auch Freud) sich nicht nur als Arzt und The-rapeut verstand, konnte er Kafka und seine Generation derart faszinieren. In einem Brief an seine Geliebte Milena Jesenská, die ebenfalls Gross kannte und 1920 in einem Feuilleton sei-nen Tod angezeigt hatte, erklärte Kafka den „therapeutischen Teil der Psychoanalyse“ für „einen hilflosen Irrtum“. Menschliches Leiden habe eine Bedeutung, die über jene „Krank-heitserscheinungen, welche die Psychoanalyse aufgedeckt zu haben glaubt“, hinausgeht.
Ganz ähnlich kritisierte Kafka an Werfels Drama, daß die leidvolle Krankheitsgeschichte der Titelfigur, die früher einmal in einem unvermittelten Wahnsinnsanfall einen Mord begangen hatte, zu einem „Einzelfall“ degradiert ist, zu einer „psychiatrischen Geschichte“: „Sie erfin-den die Geschichte von dem Kindermord. Das halte ich für eine Entwürdigung der Leiden einer Generation. Wer hier nicht mehr zu sagen hat als die Psychoanalyse, dürfte sich nicht einmischen. Es ist keine Freude, sich mit der Psychoanalyse abzugeben, und ich halte mich von ihr möglichst fern, aber sie ist zumindest so existent wie die Generation.“
Die Psychoanalyse. So sieht es Kafka, ist selbst ein Dokument ihrer Zeit, eine Art Begleit-kommentar zu den „Leiden einer Generation“. Soweit sie jedoch ihren Blick auf individuelle Einzelfälle einengt, muß Literatur über sie hinausgehen und das Allgemeine im Besonderen sichtbar machen.
Mit Nachdruck hatte dies auch Otto Gross getan. Das Thema, das ihn, Kafka, Werfel, die ganze expressionistische Generation und schließlich auch die Psychoanalyse immer wieder beschäftigte, war der Konflikt zwischen Söhnen und Vätern. Und der wiederum bildete nur das Grundmuster für die vielfältigen, mitunter tief ins Unbewußte reichenden Konflikte des einzelnen mit den Autoritäten und Mächten einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft. Das Thema mit seinen sozialen, psychischen, existentiellen oder auch religiösen Aspekten zu einer umfassenderen Kulturanalyse ausgeweitet zu haben, darin vor allem bestand Gross´ theoretisches Verdienst.
Auch wenn Kafka nicht, zumindest nicht so radikal und offen wie er, den revolutionären Kampf „gegen Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und das Vater-recht“ propagierte, gibt es zwischen den literarischen Macht-, Abhängigkeits-, Schuld- und Ohnmachtsanalysen des einen und den theoretischen des anderen etliche Berührungspunkte. Und auch die persönlichen Erfahrungen, die dahinter standen, hatten manche Ähnlichkeiten.
Jemand mußte Otto G. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Wie „Der Prozeß“ könnte eine Erzählung über jenen aufsehenerre-genden Fall beginnen, der sich im November 1913, etwa ein dreiviertel Jahr, bevor Kafka an seinem Roman zu schreiben anfing, in Berlin ereignete. Der namhafte und einflußreiche Pro-fessor für Strafrecht Hans Gross ließ seinen aus der bürgerlichen Ordnung ausgebrochenen Sohn Otto als angeblich „gemeingefährlichen Geisteskranken“ mit Hilfe der Polizei aus Ber-lin in eine Österreichische Irrenanstalt verschleppen.
Kafka muß von der Affäre gewußt haben. Mehrere expressionistische Zeitschriften, die hier ein reales und zugleich höchst anschauliches Beispiel für ihr literarisches Motiv des Vater-Sohn-Konflikts vor Augen hatten, initiierten eine Protestkampagne. Sie fand so viel Reso-nanz, daß die Zwangsinternierung in der Anstalt bald wieder aufgehoben wurde. Kafka war Leser der „Aktion“, die einige Aufsätze von Otto Gross publizierte. Hier auch wurde mehr-fach auf den Skandal hingewiesen, sogar eine Sondernummer widmete die Zeitschrift ihm. Doch aufmerksam mußte Kafka schon deshalb auf den Fall werden, weil er den Vater aus seinem Jurastudium kannte. Drei Semester lang hatte er in Prag, wo Hans Gross lehrte, bevor er 1905 nach Graz berufen wurde, seine Vorlesungen belegt.
Hans Gross war jahrelang Untersuchungsrichter gewesen. Ein Untersuchungsrichter ist es auch, der im Fall Josef K. Exponent jenes Gerichtswesens ist, das neben anderem vor allem eines mit den autoritären Übergriffen des Vaters und seiner Helfer im wirklichen Fall Otto Gross gemeinsam hat: die Fragwürdigkeit und die Undurchsichtigkeit. Einen Eindruck davon, wie sehr die Affäre von phantasieanregenden Ungewißheiten, dunklen Machenschaften und Gerüchten umrätselt war, vermittelt Arnold Zweigs Beitrag dazu in der „Schaubühne“:
„Warum hat die Polizei den Doktor Groß ausgewiesen? Nicht weil er Morphium nahm, heißt es jetzt, sondern weil er keine Papiere besaß. In der Tat hatte Otto Groß seine Ausweispapiere nicht; sie lagen bei seinem Vater, dem Kriminalisten Professor Hans Groß in Graz, und so oft er ihrethalben an den Vater schrieb, erhielt er den Bescheid, er brauche sie nicht, denn jeder-zeit könne sich die Berliner Polizei direkt an den Vater nach Graz wenden, so daß der Sohn Unannehmlichkeiten nie haben werde. Denn die Polizei aller Länder ist eine große Familie. Derselbe Vater aber hatte schon im Mai die berliner Polizei gebeten, seinen Sohn zu beauf-sichtigen (warum?) – sollten ihr also von Graz keine Papiere, sondern Aufträge, Bitten um eine kleine Gefälligkeit zugegangen sein? Sie leugnet. Sie hat nämlich, sagt sie, Otto Groß gar nicht ausgewiesen; er habe sich selber freiwillig, sagt sie, in Begleitung eines befreundeten Arztes bis an die Grenze und von dort aus, freiwillig, in eine Anstalt begeben, damit man ihm dort das Kokain entziehe – sagt sie. Nun, dem gegenüber gibt es Zeugen, die von der Beset-zung der Wohnung durch mehrere Männer wissen (......).“
Mit der Besetzung von Josef K.s Zimmer durch fremde Männer beginnt „Der Prozeß“. Und K. kann seine „Legitimationspapiere“ nicht finden. Doch wichtiger als vielleicht zufällige Übereinstimmungen oder oberflächliche Einflüsse sind die Analogien zwischen dem realen und dem fiktiven Fall, die übereinstimmenden Konflikte zwischen dem ohnmächtigen einzel-nen und den Repräsentanten patriarchalischer Macht. Sie zeigen, daß Kafkas literarische Straf-, Schuld- und Angstphantasien keineswegs so phantastisch und realitätsentrückt sind, wie uns das manche Interpreten einreden wollen; und daß die Motive und Denkformen dieses Dichters keineswegs einzigartig sind, sondern weithin repräsentativ für die Erfahrungen in seiner Zeit und Generation.
Die patriarchalische Allianz von Vaterfiguren, Gerichtsbehörden oder Schloßherren, wie wir sie aus seinem Werk kennen, empörte ganz ähnlich auch Arnold Zweig an dem Fall Otto Gross, wenn er „die Synthese von Vaterschaft und Bürokratie“ anprangerte. Die Unzuläng-lichkeit und Unzugänglichkeit, die Ignoranz oder auch banale Lächerlichkeit der gleichwohl mächtigen Behörden machen Kafkas Erzählwerke provozierend anschaulich; bei Arnold Zweig lesen wir: „Gesetzt den Fall, daß im österreichischen Reichsrat über diesen Otto Groß geredet werden sollte, so wird die Mehrzahl der Abgeordneten frühstücken, der Ministertisch wird leer sein, irgendein Ministerialrat wird strengste und sorgfältige Prüfung zusichern (....).“
Gewiß, Josef K.s Fall ist über allen vordergründigen Realismus hinaus auch und vor allem Metapher für einen inneren Prozeß, Bild eines vielschichtigen Schuldkomplexes, der Kafkas eigener war, den er jedoch nie als ein bloß individuelles Problem gesehen und dargestellt wis-sen wollte, sondern immer literarisch ins Allgemeine stilisierte. Doch gehörte es gerade zu den Einsichten der Psychoanalyse, zumal einer solchen, wie sie Otto Gross vertrat, daß innere Konflikte und Machtkämpfe nur Spiegelbild äußerer, zwischenmenschlicher Auseinanderset-zungen sind.
Der „Konflikt zwischen dem Individuum und der Allgemeinheit“, schrieb Gross in der „Aktion“, „verwandelte sich unter dem Druck des sozialen Zusammenlebens naturnotwendig in einen Konflikt im Individuum selbst, weil sich das Individuum sich selbst gegenüber als der Vertreter der Allgemeinheit zu fühlen beginnt“. Die „ins eigene Innere eingedrungene Autorität“ führe in der Psyche des einzelnen zum „Konflikt des Eigenen und Fremden“, der individuellen, insbesondere sexuellen Bedürfnisse einerseits und des „Anerzogenen und Aufgezwungenen“ andererseits.
Während einer nächtlichen Bahnfahrt von Budapest nach Prag lernte Kafka im Juli 1917 Otto Gross zum ersten Mal persönlich kennen. Der Wiener Literat Anton Kuh, ein Schwager von Gross, war mit dabei. Es muß eine merkwürdige Reise gewesen sein. Kuh, so berichtete Kaf-ka an Milena, „sang und lärmte die halbe Nacht“, während Gross ihm seine Lehre darzulegen versuchte.
Noch im gleichen Monat trafen sich die beiden in der Wohnung von Max Brod. Dieser gab darüber später in seiner Kafka-Biographie einen kurzen Bericht: „Der 23. Juli sieht dann noch eine größere Gesellschaft bei mir, an der außer Kafka der Musiker Adolf Schreiber, Werfel, Otto Groß und dessen Frau teilnahmen. Groß entwickelte einen Zeitschriftenplan, für den sich Kafka sehr interessierte.“
Kafkas eigene Erinnerung an jenen Abend klang, noch vier Monate danach, weit begeisterter. An Brod schrieb er: „Wenn mir eine Zeitschrift längere Zeit hindurch verlockend schien (au-genblicksweise natürlich jede), so war es die von Dr. Gross, deshalb weil sie mir, wenigstens an jenem Abend, aus einem Feuer einer gewissen persönlichen Verbundenheit hervorzugehen schien. Zeichen eines persönlich aneinander gebundenen Strebens, mehr kann vielleicht eine Zeitschrift nicht sein.“
„Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens“ sollte sie heißen. Sie ist nie erschienen; doch das „Feuer einer gewissen persönlichen Verbundenheit“ mit Gross hat im Spätwerk des Dichters deutliche Spuren hinterlassen. Vor allem in dem „Brief an den Vater“ und in dem Roman-fragment „Das Schloß“, in dem Kafka nicht zufällig mit dem „Herrenhof“ den Namen jenes Wiener Cafés aufgegriffen hat, in dem sich Anton Kuh, Werfel und Gross zu treffen pflegten, sind sie zu finden. Zwei Begriffe in dem Titel der geplanten Zeitschrift gehören zu den stän-dig wiederkehrenden Schlüsselwörtern beider Texte: Kampf und Macht. Brief und Roman sind nicht zuletzt subtile Beschreibungen eines Kampfes um und gegen die Macht, in dem der Vater beziehungsweise die Schloßherren freilich hoffnungslos überlegen sind.
Wie Kafka in dem Brief seinen Vater schildert, hat dieser einiges mit dem Vater von Otto Gross gemeinsam: beide waren Sozialdarwinisten fragwürdigster Sorte. Der Strafrechtler hatte sich in diversen Schriften mit Argumenten dafür hervorgetan, biologisch minderwertige und für den Kampf ums Dasein nicht taugliche Verbrecher um der Gesundheit der Gesell-schaft willen in die Kolonien Südwestafrikas zu deportieren. Kafkas Vater, der die sozialdar-winistischen Tugenden der Stärke und Gesundheit sowohl verkörpert als auch mit Worten vertritt, denkt in ähnlichen Kategorien. Der schwächliche Sohn ist in seinen Augen ein le-bensuntüchtiges Ungezifer. Darüber hinaus ist er lungenkrank – wie jener Angestellte des Vaters, über den dieser einmal sagte: „Er soll krepieren, der kranke Hund.“ Abgesehen davon verkehrt der Sohn, wie Otto Gross, mit „verrückten Freunden“ und befaßt sich mit „über-spannten Ideen“. In ähnlichem Ton hatte der Vater Gross in seiner Charakterisierung der Ent-arteten über „sexuell Perverse“, „Ewigunzufriedene“, „Umstürzler“, „Professionsspieler“, „Geisteskranke“ und dergleichen geschrieben, über einen sozialen Typus also, mit dem man in expressionistischen Bohémekreisen sympathisierte. In Kafkas Beschreibung seines Kamp-fes mit dem Vater scheint also einiges auch von dem Konflikt zwischen Hans und Otto Gross eingegangen zu sein.
Otto Gross war mit seiner Art des Kampfes gegen das Vater- und für das Mutterrecht gewiß eine problematische Figur. Nach dem ersten Eifer und Enthusiasmus der Wiederentdeckung steht eine angemessene Würdigung seiner Person und seiner Schriften noch aus. Welche Fas-zination von ihm ausging, davon zeugen zahlreiche Dichtungen und Erinnerungsbücher, in denen er teils offen, teils verschlüsselt auftaucht. Sie weisen auch darauf hin, daß Gross nicht nur genial war, sondern auch psychisch äußerst gefährdet. Er selbst machte daraus kein Ge-heimnis. Und er war für manche, die unter seinem Einfluß standen, vielleicht sogar gefährlich. Doch was Werfel in seinem Drama „Schweiger“, wie auch später in dem Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“, aus ihm gemacht hat, ist mehr als eine entwürdigende Verzeichnung, das ist eine Diffamierung.
Dr. Ottokar Grund wird nicht nur als ein „höchst unangenehmer Mensch“ charakterisiert, als „abgerissen und gänzlich verwahrlost“, ja er ist nicht einmal nur ein gefährlicher Psychopath, der sich von der Autorität befreit, indem er seinen Psychiater erschießt, er ist mehr noch: ein Ungeheuer, das „den grenzenlosen Haß von Millionen Kranken“ auf die wohlgeordnete Welt der Gesunden predigt. Und wahrhaft ungeheuerlich sind auch die Pläne, die er andeutet: „Bazillenkulturen in die Wasserleitungen.....“
Die Figuren in dem Stück seien „keine Menschen“, schreibt Kafka. Otto Gross ist hier zum Unmenschen gemacht, der die Humanität als Lüge entlarven will. Das mußte den schockieren, der ihn einmal so hoch schätzte wie Kafka. Zumal er eine Eigenschaft des Dr. Grund, auch wenn sie von Werfel wieder maßlos verzerrt wurde, als eigene wiedererkennen mußte: das ambivalente Verhältnis zur Macht und Autorität.
Dr. Grund schwankt gegenüber der Autorität seines Psychiaters, der das rassistische und na-tionalrevolutionäre Gedankengut der Zeit verkörpert, zwischen hündischem Gehorsam und heroischer Auflehnung. Ähnlich zerrissen von einem geradezu masochistischen Verlangen nach Unterwerfung und dem Willen zum Kampf gegen fragwürdige Autoritäten hat Kafka sich wiederholt in seinen literarischen Figuren dargestellt. Doch um wieviel menschlicher, um wieviel allgemeingültiger vermochte er dieses Dilemma zu vermitteln, das ein anderer Freud-Schüler, Erich Fromm, später sozialpsychologisch als die „Flucht vor der Freiheit“ diagnostizierte.
Nachdem K. sich im achten Kapitel des „Schloß“-Romans in einem Akt der Auflehnung gegen die Macht und die ihr hörige Dorfgemeinschaft dem Befehl zum Verhör entzieht, indem er das Haus und die Menschen in ihm verläßt und sich allein ins Freie begibt, folgt abschließend jener großartige Satz, der die ganze Gespaltenheit dieses modernen Helden zum Ausdruck bringt: „da schien es K. als habe man nun alle Verbindung mit ihm abgebrochen und als sei er nun freilich freier als jemals und (.....) habe sich diese Freiheit erkämpft wie kaum ein anderer es könnte und niemand dürfe ihn anrühren oder vertreiben, ja kaum ansprechen, aber – diese Überzeugung war zumindest ebenso stark – als gäbe es gleichzeitig nichts Sinnloseres, nichts Verzweifelteres als diese Freiheit, dieses Warten, diese Unverletzlichkeit.“
Das waren die „Leiden der Generation“. Sie litt unter den zweifelhaften Autoritäten ebenso wie unter dem Verlust an Orientierung und Geborgenheit, wenn sie sich von ihnen und der durch sie geprägten Gesellschaft frei zu machen versuchte. Unter dem Druck der Väter suchte sie die anarchische Ungebundenheit der Vaterlosigkeit und als Vaterlose wiederum den Vater, den Führer.
Doch waren es nicht nur die Leiden der eigenen Generation, die der empörte Kafka von Werfel zum psychiatrischen Einzelfall degradiert sah, es blieben die Leiden des Jahrhunderts.

Etliche verstreute Hinweise zu der Beziehung zwischen Kafka und Otto Gross verdanke ich den Arbeiten Hartmut Binders, vor allem seiner materialreichen Biographie in dem von ihm herausgegebenen Kafka-Handbuch, das in zwei Bänden 1979 im Kröner Verlag erschien. Über Otto Gross hat 1979 Emanuel Hurwitz eine Biographie im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Eine Auswahl seiner Schriften hat Kurt Kreiler herausgegeben; sie ist 1980 im Robinson Verlag erschienen. Franz Werfels Trauerspiel „Schweiger“, das 1922 im Kurt Wolff Verlag erschien, ist im Rahmen der „Gesammelten Werke“ (S. Fischer) 1959 nachgedruckt worden. Der Passus aus Kafkas Roman „Das Schloß“ mit seiner eigenwilligen Zeichensetzung wurde nach der handschriftlichen Fassung zitiert, die Malcolm Pasley 1982 im S. Fischer Verlag herausgegeben hat.

Erstdruck in: Akzente 31, 1984, H.2, S.184-191
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